Markenlexikon

MV-Agusta

Ursprungsland: Italien

Sein erstes Flugzeug konstruierte Giovanni Agusta (1879 – 1927) bereits 1907, die gleichnamige Firma in Cascina Costa bei Mailand entstand jedoch erst 1923. Wie andere Flugzeughersteller auch, musste sich Agusta nach dem Ende des 2. Weltkriegs erst einmal ein anderes Betätigungsfeld suchen. Domeinco Agusta (1907 – 1971), der Sohn des Gründers, entschied sich für die Produktion eines Motorrades und rief 1945 in Verghera bei Varese die Firma Meccania Verghera Agusta (MV-Agusta) ins Leben. 1946 kam das erste Leichtmotorrad auf den Markt, 1949 der erste Motorroller und ab 1950 auch Motorräder mit größerem Hubraum. Agusta selbst engagierte sich bereits in den 1950er Jahren wieder im Hubschrauberbau. In den 1950er und 1960er Jahren baute Agusta vor allem US-amerikanische Hubschrauber in Lizenz (Bell 47, Bell 205, Bell 206, Bell 212, Bell 412, Sikorsky S-61, Boeing-Vertol CH-47). 1971 absolvierte der Mehrzweckhubschrauber Agusta A109 »Hirundo«, der erste von Agusta selbst entwickelte Hubschrauber, seinen Jungfernflug.

1973, zwei Jahre nach dem Tod von Domeinco Agusta, wurde Agusta von der Staatsholding EFIM (Ente Partecipazioni e Finanziamento Industria Manifatturiera) übernommen. Obwohl sich MV-Agusta zu einem weltweit führenden Motorradhersteller entwickelt hatte und eine ganze Reihe sportlicher Erfolge vorweisen konnte (bis 1975 errangen berühmte Fahrer wie Carlo Ubbiali, John Surtees, Mike Hailwood, Giacomo Agostini und Phil Read insgesamt 275 GP-Siege und 38 Fahrerweltmeisterschaften), stellte Agusta die Motorradproduktion 1980 ein (die Rennabteilung war schon 1976 geschlossen worden), um sich wieder ganz der Entwicklung und dem Bau von Hubschraubern widmen zu können.

Die ganzen 1970er und 1980er Jahre hindurch beschäftigte sich Agusta mit der Entwicklung des leichten Panzerabwehr-Hubschraubers Agusta A129 »Mangusta« (Erstflug 1983), der ab 1990 an die italienische Armee ausgeliefert wurde. Von 1970 bis 1983 übernahm Agusta den italienische Flugzeughersteller SIAI-Marchetti, einen Hersteller von Schulflugzeugen. 1980 gründeten Agusta und Westland Helicopters (Großbritannien) das Jointventure European Helicopter Industries (EH Industries), das den militärischen und zivilen Transporthubschrauber EH-101 »Merlin« (Erstflug 1987) entwickelte. Das Modell, das vor allem für den Einsatz bei der britischen und italienischen Marine gedacht war, basierte auf einem Entwurf von Westland. Der EH-101 wird in den Werken Yeovil (Westland) und Cascina Costa hergestellt. Gemeinsam mit Eurocopter (Frankreich/Deutschland) und Fokker (Niederlande) rief Agusta 1992 ein weiteres Unternehmen ins Leben, NATO Helicopter Industries. NH Industries entwickelte den Mehrzweck-Hubschrauber NH-90 (Erstflug 1995). Das 1998 mit Bell Helicopter Textron gegründete Jointventure Bell-Agusta Aerospace Company (Forth Worth/Texas) ist für die Produktion des Hubschraubers AB139 (Erstflug 2001) und des Kipprotorflugzeugs BA609 (Erstflug 2003), einer Weiterentwicklung der Bell/Boeing V-22 »Osprey«, zuständig.

MV-Agusta
MV-Agusta

1990 fasste der Staatskonzern IRI (Istituto per la Ricostruzione Industriale) seine Luft- und Raumfahrtaktivitäten (Aeritalia/Alenia) unter dem Dach der Tochtergesellschaft Finmeccanica zusammen; 1994 wurde auch Agusta in die Finmeccanica-Gruppe eingegliedert. Die Flugzeugabteilung (SIAI-Marchetti) übernahm daraufhin Aermacchi (Alenia-Aermacchi). Seit 2017 firmiert die neue Finmeccanica S.p.A. unter dem Namen Leonardo S.p.A. – nach dem italienischen Universalgelehrten Leonardo da Vinci, der neben seinen vielfältigen Aktivitäten auch diverse Flug- und Kriegsgeräte entworfen hatte (Luftschrauben, U-Boote, Belagerungsgeräte, Panzer).

1992 erwarb der ebenfalls aus Italien stammende Motorradhersteller Cagiva aus Schiranna, zu dem auch Husqvarna gehörte, von Agusta den Markenamen MV-Agusta. 1997 benannte sich Cagiva in MV-Agusta Motor S.p.A. um und präsentierte auf der Mailänder Motorradschau das erste neue Motorrad seit langer Zeit. Zu dieser Zeit befand sich das Unternehmen in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, was zum Verkauf von Ducati führte. Die Motoren bezog MV-Agusta nun von Suzuki. 2001 beteiligte sich der Motorrad- und Flugzeughersteller Piaggio (Vespa, Gilera, Puch) mit 20 Prozent an MV-Agusta. 2004 erwarb der malaysische Autokonzern Proton, dem auch der britische Sportwagenhersteller Lotus gehört, die Mehrheit von MV Agusta (57,75 Prozent); der Rest befand sich in der Hand der Familie Castiglioni (37,25), der Electrolux-Tochtergesellschaft Husqvarna AB (3 Prozent) und Massimo Tamburini (2 Prozent). Nachdem Proton wegen der Öffnung des malaysischen Marktes für ausländische Autohersteller selbst in finanzielle Schwiergkeiten geraten war, verkaufte der Konzern seine MV-Agusta-Anteile 2006 an die Investmentgesellschaft GEVI aus Genua. 2007 übernahm BMW die Marke Husqvarna.

2008 kehrte Harley-Davidson mit dem Kauf der MV-Agusta Group nach 30 Jahren wieder für kurze Zeit nach Varese zurück, doch bereits 2010, als die Amerikaner selbst mit Absatzschwierigkeiten zu kämpfen hatte, kaufte Claudio Castiglioni die Firma wieder zurück. 2014 beteiligte sich die Daimler-Tuning-Tochter Mercedes-AMG GmbH mit 25 Prozent an der MV-Agusta Motor S.p.A.; bereits 2017 gab AMG diese Anteile aber wieder an den neuen Gesellschafter ComSar Invest (Black Ocean Group) zurück, der nun etwa 75 Prozent an MV-Agusta hält. Die Black Ocean Group, die dem russischen Öl- und Gasoligarchen Timur Sardarov gehört, war kurz zuvor bei MV-Agusta eingestiegen.

Text: Toralf Czartowski • Fotos: Public Domain