Markenlexikon
Der deutschstämmige Holzhändler William Edward Boeing (1881 – 1956) – sein Vater hieß Wilhelm Böing und stammte aus Hohenlimburg im Sauerland – baute 1914 gemeinsam mit dem Marineingenieur George Conrad Westervelt (1879 – 1956) und 21 Mitarbeitern seine ersten beiden Flugzeuge, zwei einmotorige Doppeldecker mit Schwimmerfahrgestell. Im Juni 1916 startete die B&W 1 zum Jungfernflug. Daraufhin gründete Boeing in Seattle die Firma Pacific Aero Products Company, die er 1917 in Boeing Airplane Company umbenannte. Die Aufträge ließen nicht lange auf sich warten. In Europa wütete der 1. Weltkrieg und die U.S. Army brauchte Flugzeuge (die U.S. Air Force wurde erst 1947 gegründet). Boeing war in dieser Zeit jedoch hauptsächlich als Zulieferer für andere Flugzeughersteller tätig.
1919 begann William Boeing nach neuen Einsatzgebieten für seine Flugzeuge zu suchen und richtete auf der Strecke Seattle – Vancouver einen regelmäßigen Transportdienst für internationale Post ein. 1927 gründete er für die Luftpoststrecke Chicago – San Francisco die Frachtfluggesellschaft Boeing Air Transport und übernahm gleichzeitig die Firma Pacific Air Transport, die die Rechte an der Luftpoststrecke Seattle – Los Angeles besaß. Um auf den Poststrecken auch eine größere Anzahl von Passagieren befördern zu können, baute Boeing 1928 das erste eigene Passagierflugzeug, einen einmotorigen Doppeldecker mit achtzehn Sitzplätzen.
Im gleichen Jahr entstand die Holdinggesellschaft Boeing Airplane and Transport Corporation, in der die verschiedenen Aktivitäten von Boeing zusammengefasst wurden. Ab 1929 firmierte dieses Unternehmen als United Aircraft and Transport Corporation (UATC). Noch im Gründungsjahr übernahm die UATC weitere Firmen wie Chance Vought (Flugzeuge), Hamilton Aero Manufacturing (Flugzeugpropeller), Northrop Aircraft (Flugzeuge), Pratt & Whitney (Flugmotoren), Sikorsky Aviation (Flugzeuge, Hubschrauber), Standard Steel Propeller (Flugzeugpropeller), Stearman Aircraft (Flugzeuge), Stout Air Services (Fluglinie) sowie 1930 die Fluggesellschaften National Air Transport und Varney Air Lines. 1931 wurden alle Fluggesellschaften der UATC unter dem Namen United Air Lines zusammengeschlossen.
Anfang der 1930er Jahre entwickelte Boeing mit dem zweimotorigen Modell Boeing 247 (1932 – 1935), in dem zehn Passagiere Platz fanden, eines der fortschrittlichsten Verkehrsflugzeuge der damaligen Zeit. Die Maschine konnte selbst bei Ausfall eines Triebwerks noch weiter fliegen. Außerdem war am Trag- und Leitwerk erstmals eine Enteisungsvorrichtung angebracht. Trotzdem konnte sich Boeing gegenüber den DC-Modellen des Konkurrenten Donald Willis Douglas (1892 – 1981) nicht durchsetzen. Das war jedoch Boeings eigene Schuld. Um der konzerneigenen Fluggesellschaft einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, lieferte Boeing die 247 zunächst nur an United Air Lines und ließ andere Fluggesellschaften lange auf ihre Bestellungen warten. TWA wandte sich daher an die Douglas Aircraft Company aus Santa Monica/California, die seit ihrer Gründung 1921 nur Militärflugzeuge gebaut hatte, und gab ein Konkurrenzmodell in Auftrag.
Douglas Aircraft entwickelte in relativ kurzer Zeit einen zweimotorigen Ganzmetall-Tiefdecker für zwölf Passagiere. Die DC-Flugzeuge (DC2 – DC6) wurden bald so erfolgreich, dass Douglas Aircraft zeitweise neunzig Prozent des weltweiten zivilen Luftverkehrs beherrschte. Sogar William Boeing bestellte eine DC-5 als Privatflugzeug, da seine Firma kein vergleichbares Produkt im Programm hatte (er bekam 1940 den Prototyp). Vor allem die DC-3 (1935 – 1946) und die viermotorige DC-6 (1946 – 1958) waren lange Zeit für viele Airlines auf der ganzen Welt sichere und robuste Arbeitspferde.
Nachdem die US-Regierung Boeings riesigen Konzern UATC 1934 aus kartellrechtlichen Gründen in die drei Unternehmen Boeing Airplane Company (Flugzeugbau), United Aircraft Corporation (Chance Vought, Hamilton-Standard, Pratt & Whitney, Sikorsky) und United Air Lines (Fluglinien) aufgeteilt hatte, verließ William Boeing seine Firma und beschäftigte sich fortan mit der Pferde- und Rinderzucht.
1934 erhielt Boeing von der U.S. Army den Auftrag, ein modernes Bombenflugzeug zu entwickeln, was bereits ein Jahr später zur Fertigstellung der berühmten B-17 Flying Fortress (Fliegende Festung) führte, die jedoch während des 2. Weltkriegs aus Kapazitätsgründen nicht nur von Boeing in Seattle, sondern auch von Douglas Aircraft in Long Beach/California und von Lockheed in Burbank/California gebaut wurde. Insgesamt entstanden in den drei Werken 12.731 Flugzeuge dieses Typs. Eine weitere erfolgreiche Entwicklung von Boeing war der superschwere Fernbomber B-29 Superfortress, der ab 1943 von Boeing, Bell Aircraft und Martin Aircraft gebaut wurde. Auch nach dem Krieg blieben die großen strategischen Fernbomber zunächst ein Hauptbetätigungsfeld des Unternehmens. Besonders unverwüstlich zeigte sich dabei die Boeing B-52 Stratofortress, die ihren Erstflug bereits im April 1952 absolvierte und die bis 2040 in Dienst bleiben soll. Von 1952 bis 1962 wurden in Seattle und in einem neu errichteten Boeing-Werk in Wichita/Kansas 744 B-52 gefertigt.
Ab Mitte der 1950er Jahren schränkte der Konzern seine militärischen Aktivitäten immer weiter ein, im Vordergrund stand nun der zivile Flugzeugbau. 1958 revolutionierte die zunächst für die U.S. Air Force als Transport- und Tankflugzeug entwickelte vierstrahlige Boeing 367-80 (Erstflug 1954), deren zivile Variante Boeing 707 (Erstflug 1957) getauft wurde, dank ihrer enormen Reichweite die zivile Luftfahrt. Die 707 (1957 – 1978; 917 Exemplare) verkaufte sich wesentlich besser als das Konkurrenzmodell Douglas DC-8 (1958 – 1972; 556 Exemplare), das kurz darauf auf den Markt kam. Die von 1961 bis 1969 gebaute Mittelstreckenversion der 707 bekam die Bezeichnung Boeing 720. Die militärische Variante hieß 717. Auch die Tankflugzeuge KC-135 Stratotanker (Erstflug 1956) und C-135 Stratolifter (Erstflug 1956) basierten auf der 707, ebenso das von 1974 bis 1991 gebaute AWACS-Aufklärungsflugzeug E-3 Sentry.
Boeing entwickelte in den nächsten Jahrzehnten eine ganze Flugzeugfamilie, die mit Ausnahme von kleinen Geschäftsreiseflugzeugen alle Bereiche der zivilen Luftfahrt abdeckte. 1963 absolvierte das dreistrahlige Kurz- und Mittelstreckenflugzeug Boeing 727 (1963 – 1984; 1832 Exemplare) seinen Jungfernflug, 1967 folgte der zweistrahlige Kurzstreckenjet Boeing 737, das bis heute meistverkaufte Flugzeug der Welt (11.324 Exemplare bis Februar 2023), 1969 der vierstrahlige Großraumjet Boeing 747 Jumbo Jet (1969 – 2022: 1574 Exemplare), das lange Zeit größte zivile Verkehrsflugzeug der Welt (erst 2005 wurde es vom Airbus A380 abgelöst), 1981 das zweistrahlige Langstreckenmodell Boeing 767 (1271 Exemplare bis Februar 2023) sowie 1982 dessen Mittelstreckenversion Boeing 757 (1981 – 2004; 1050 Exemplare), 1994 der zweistrahlige Mittel- und Langstreckenjet Boeing 777 (1702 Exemplare bis Februar 2023) und 2009 das zweistrahlige Großraumflugzeug Boeing 787 Dreamliner (1041 Exemplare bis Februar 2023). Für die Produktion der 747 wurde extra in Everett, rund 50 Kilometer nördlich von Seattle, ein neues Werk errichtet. Die Entwicklung eines zivilen Überschallverkehrsflugzeugs (1964 – 1971) wurde eingestellt, nachdem die US-Regierung die weitere Unterstützung des Projektes mit Steuergeldern abgelehnt hatte. Bis dahin war bereits eine Milliarde US-Dollar in die Boeing 2707 investiert worden, weit mehr als die Concorde gekostet hatte. In der Folge reduzierte der Konzern die Anzahl seiner Mitarbeiter um mehr als 60.000.
Seit 1960, als Boeing die Vertol Aircraft Corporation aus Philadelphia übernommen hatte, stellte der Konzern auch Hubschrauber her, u.a. den Tandemrotor-Verkehrshubschrauber Boeing-Vertol H-46 Sea Knight (Erstflug 1958), den Transporthubschrauber Boeing-Vertol CH-47 Chinook (Erstflug 1961), ebenfalls mit Zwillingsrotoren, sowie das Kipprotor-Flugzeug Bell/Boeing V-22 Osprey (Erstflug 1989), ein Verwandlungsflugzeug, das dank schwenkbarer Antriebe wie ein Hubschrauber schweben, aber auch wie ein Flugzeug fliegen kann.
Aufgrund des internationalen Erfolgs der Boeing-Flugzeugfamilie, stellten alle anderen US-Flugzeughersteller den Bau ziviler Verkehrsflugzeuge nach und nach ein (1963 Convair, 1983 Lockheed) und auch McDonnell-Douglas (Nachfolgeunternehmen von Douglas Aircraft) kam immer mehr ins Hintertreffen. Zwar verkauften sich die Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge DC-9/MD-80/MD-90 (1965 – 2000; 2438 Exemplare) sehr gut, aber das durch eine Unfallserie in den 1970er Jahren in den Verruf geratene dreistrahlige Großraumflugzeug DC-10 (1968 – 1988) und dessen Nachfolger MD-11 (1988 – 2000) kamen niemals an die Verkaufszahlen des Konkurrenzmodells Boeing 747 heran. Für die geplante Entwicklung des zweistöckigen Großraumflugzeugs MD-12 für 500 Passagiere oder einer gestreckten Variante der MD-11 fehlte McDonnell-Douglas in den 1990er Jahren bereits das nötige Kapital.
1997 kam es schließlich zum Zusammenschluss der beiden jahrzehntelangen Rivalen. Damit war Boeing der einzige verbliebene US-Hersteller von großen Passagierflugzeugen. Der Name McDonnell-Douglas verschwand daraufhin, aber Boeing übernahm das Douglas- und spätere McDonnell-Douglas-Logo, das den Douglas-World-Cruiser-Flug von 1924 symbolisiert. Die noch im Entwicklungsstadium befindliche MD-95 wurde in Boeing 717 (1998 – 2006) umgetauft. Die früheren MDD-Produktionsstätten in St. Louis/Missouri (F-15, F-18) und Mesa/Arizona (Apache) betreibt Boeing bis heute weiter. Das Werk in Long Beach wurde nach dem Produktionsende der C-17 Globmaster III 2016 geschlossen. Boeing erbte durch die Übernahme auch mehrere militärische Produkte (AH-64 Apache, F-15 Eagle, F-18 Hornet, KC-10 Extender, C-17 Globemaster III, Tomahawk Marschflugkörper, Harpoon Seezielflugkörper).
Als führender US-Flugzeughersteller war Boeing von Anbeginn in Raumfahrtprojekte involviert. Anfang der 1960er Jahre entwickelte der Konzern die Syncom-Nachrichtensatelliten, mit dem Telefon- und Nachrichtenverbindungen aus Synchronbahnen erprobt wurden. Von 1965 bis 1975 war Boeing neben North American Aviation/Rockwell International und Douglas Aircraft am Bau der Saturn-V-Trägerraketen beteiligt, mit denen die Apollo-Kapseln ins All geschossen wurden. Gemeinsam mit General Motors entwickelte und baute Boeing auch die Mondmobile (Lunar Roving Vehicle), die bei den letzten drei Apollo-Mondlandungen 1971 und 1972 zum Einsatz kamen. Am Aufbau der internationalen Raumstation ISS (International Space Station) war der Konzern ebenfalls beteiligt. 2011 begann Boeing in der staatlichen NASA-Produktionsanlage Michoud Assembly Facility bei New Orleans, die heute von Lockheed-Martin betrieben wird, mit der Entwicklung und dem Bau der SLS-Trägerrakete für das Raumfahrtprogramm Artemis, das eine erneute Landung auf dem Mond zum Ziel hat. In Michoud waren früher von Boeing, Chrysler und Martin-Marietta die ersten Stufen der Saturn-Mondraketen und der große Außentank der Space-Shuttles gebaut worden. Lockheed-Martin fertigt dort das neue Mondraumschiff Orion MPCV.
1997 erwarb Boeing den Luft- und Raumfahrtbereich der Rockwell International Corporation (die frühere Flugzeugbaufirma North American Aviation), den Hersteller des strategischen Mehrzweck-Fernbombers Rockwell B-1 (1974 – 1988) sowie der Raumfähren Enterprise (1974 – 1976), Columbia (1975 – 1977), Challenger (1979 – 1982), Discovery (1979 – 1983), Atlantis (1980 – 1985) und Endeavour (1987 – 1991). 2000 übernahm Boeing von der Hughes Electronics Corporation die Tochtergesellschaft Hughes Space and Communications, den damals weltweit führenden Hersteller kommerzieller Satellitensysteme.
Die Hauptstandorte der Boeing Company befinden sich in Chicago/Illinois (Konzernzentrale; seit 2001), Seattle/Washington (Verkehrsflugzeuge), St. Louis/Missouri (Verteidigungsbereich), Seal Beach/California (Raumfahrt), Renton/Washington (Verkehrsflugzeuge), Everett/Washington (Verkehrsflugzeuge), Wichita/Kansas (Flugzeugteile), Mesa/Arizona (Apache), El Segundo/California (Satellite Systems) und Philadelphia/Pennsylvania (Chinook, Osprey, Comanche).
Text: Toralf Czartowski • Fotos: Unsplash.com, Pixabay.com, Public Domain